Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte (GL 272)

Alte Melodie – neuer Text

272-Zeige uns, Herr

Wenn auch Raymund Weber den Text zu diesem Lied ursprünglich für die Melodie eines skandinavischen Liedes geschaffen hat, so ist er im neuen Gotteslob mit einer Melodie aus dem „Geistreichen Gesangbuch“ von Johann Anastasius Freylinghausen (1670‒1739) verbunden.

 Freylinghausen-Titel

Webers Text sollte aber einem Vergleich mit der pietistisch inspirierten Poesie des Liedes  Nr. 1126 in diesem Gesangbuch standhalten.

 Freylinghausen 1126

Jede Melodie der 1581 Lieder auf den 1080 Seiten des Gesangbuchs ist zwecks Begleitung mit einer Generalbass-Bezifferung versehen. Diesen Service findet man im neuen Gotteslob bei den sogenannten neuen geistlichen Liedern in Form von Akkordbuchstaben. Nur etwa 20% der Liedtexte im „Geistreichen Gesangbuch“ haben eine eigene Melodie. Das Lied Christen erwarten in allerley Fällen steht im 44. Abschnitt Von der Freudigkeit des Glaubens und hat neun Strophen.

Der Melodie zu Nr. 1126 einen Text zu unterlegen ist nicht ganz einfach, weil jede Melodiezeile mit einem Volltakt beginnt. Das bedeutet, dass jede Textzeile mit einer betonten Silbe anfangen muss. Das ist Weber fast durchweg gelungen. Kritisch sind nur die Anfänge der beiden zweiten Stollen in der ersten und zweiten Strophe Mit deinem Beistand und Dein Reich des Friedens, bei denen man lieber einen auftaktigen Beginn sehen würde. Aber auch beim barocken Dichter entdeckt man in der achten Strophe eine solche Stelle: wenn Christus prächtig am Ende wird kommen. Ob man vielleicht in seiner vierten Strophe anders als heute betonte: sind es nicht alles unnöthige Schmertzen? Zum Glück griff Weber nicht zum Enjambement wie der Gesangbuchdichter in der sechsten Strophe:

Gutes und alle erwünschete Gaben
werden dir, bis man dich leget ins Grab,
folgen, ja wirst selbst den Himmel noch haben,
ey, warum sagst du den Sorgen nicht ab?

Es ist mir nicht ganz klar, worauf sich in Webers dritter Strophe Worte und Taten beziehen. Das vorherige Komma lässt die Vermutung aufkommen, dass die Stelle sich auf Du hast … hingegeben bezieht. Das ergibt aber keinen Sinn. Es fehlt hier ein Prädikat, wie etwa du gabst uns, was aber nicht ins Metrum gepasst hätte.

Die Melodie mutet der Gemeinde am Anfang allerhand zu. Durch die Verwendung von zwei Halbtonschritten e-dis und g-fis entsteht die verminderte Quarte dis-g, die in der Aufwärtsbewegung nicht leicht zu intonieren ist. Besser ist dieser Schritt in den Takten 13-14 zu bewältigen, die den Krebsgang der Anfangstakte darstellen. Die vorausgehende Quarte erleichtert das Treffen der verminderten Quarte in der Abwärtsbewegung. Es scheint, als ob der „Krebs“ im Abgesang der Barform bewusst eingesetzt wurde, um eine Beziehung zum Stollen herzustellen. In der ersten Strophe von Weber kann man eine Entsprechung sehen zwischen Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte und Feuer des Heiligen Geistes uns sende! Auch im ursprünglichen Text erkennt man einen Bezug zwischen Christen erwarten  in allerley Fällen und kann doch ihr Grauen sie wenig erschrecken. Beim bewussten Singen wird einem dieser Bezug sicher auffallen. Die Melodie aus dem Gesangbuch von Freylinghausen wurde bis auf die Stelle in Takt 2 notengenau übernommen. Der Text im ersten Stollen der ersten Strophe und im zweiten Stollen der dritten Strophe lässt die Fassung mit den zwei Achteln nicht zu. Die jeweils einsilbigen Wörter auf der ersten Zählzeit verhindern das.

Dieses Lied kann sicher in kleineren Gemeinschaften seine Wirkung entfalten. Die große Gemeinde dürfte mit den typisch barocken Wendungen ihre Schwierigkeiten haben.  

Für weitere Informationen greife man zum Liedportrait: „Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte“ von Meinrad Walter.

Anton Stingl jun.

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